Wenn man die Idole seiner Kindheit trifft: Aus dem Karrieremodus in die reale Welt
- Niclas Löwendorf
- 2. Juni
- 4 Min. Lesezeit
Ich erinnere mich noch gut an das Jahr 2010. Ich, damals 13 Jahre alt, saß in meinen Sommerferien an einem regnerischen Tag in meinem Kinderzimmer und spielte das legendäre Playstation-Spiel FIFA. Auf dem Plan stand der Karrieremodus, mein Ziel: den VfL Bochum (warum auch immer?!) ganz groß machen. Also hieß es: auf dem Transfermarkt aktiv werden. Ein Toptransfer musste her, also scoutete ich in Brasilien. Ich wurde aufmerksam auf ein 18-jähriges Ausnahmetalent. Damals noch recht unbekannt. Für einen schmalen Taler vom FC Santos verpflichtet. Schoss später die Liga kurz und klein. Die Rede ist natürlich von: Neymar.
15 Jahre später sieht die Welt etwas anders aus. Neymar hat mittlerweile im echten Leben Transfererlöse in Höhe von 400 Millionen Euro in seiner Vita stehen und geht als Geheimtipp wohl nicht mehr durch. Ich hingegen bin dem Kinderzimmer entwachsen und in der Arbeitswelt angekommen. Und in dieser kam es nun dazu, dass sich unsere Wege kreuzten.
Auf dem Programm stand RB Leipzigs Promo-Reise Nummer zwei innerhalb von nur einem Jahr. In solchen Trips sind die Roten Bullen mittlerweile geübt. Zur Saisonvorbereitung im Vorjahr besuchte man Schwesterclub Red Bull New York in den Vereinigten Staaten, dieses Mal fiel die Wahl auf den nächsten Partnerclub: Red Bull Bragantino in Sao Paulo. 2019 übernahm der Brausekonzern den Club. Höchste Zeit also, dass das Flaggschiff aus Leipzig vorbeischaut.

12 Stunden dauerte der Flug von Leipzig nach Viracopos, dem Flughafen von Sao Paulo. Gemeinsam mit der Mannschaft und allen mitreisenden Staff-Mitgliedern wurden wir gechartert. Welch ein Programm auf die die Spieler, aber auch die Medienabteilung wartete, wurde schnell deutlich. Jeder Tag wurde nahezu bis auf die letzte Minute durchgeplant. Klar: wenn man mal vor Ort ist, will man die Zeit auch bestmöglich nutzen und auf sich aufmerksam machen. Sei es der Besuch im Fußballmuseum, im brasilianischen Live-TV, die Eröffnung eines Bolzplatzes, oder auch das Vorbeischauen in einer Schule. Und wir Journalisten waren bei vielen Terminen mit dabei.
Allerdings standen für uns bei SPORT1 viel mehr die sportlichen Aspekte im Mittelpunkt: wie die Frage, wer der neue Mann auf dem Trainerstuhl wird? Wie groß fällt der Umbruch im Kader aus? Wie steht es um das Mannschaftsklima? Und warum wurde jedes einzelne Saisonziel verpasst?

Bereits einige Wochen vor der Reise hatte ich beim Club hinterlegt, mit Benjamin Šeško ein Exklusivinterview führen zu wollen. Der Slowene gilt mit Xavi als heißester Abgangskandidat. Die halbe Premier League jagt ihn, insbesondere Arsenal London. Drum drehte sich ein Großteil unseres Interviews auch um seine Zukunft. Der 21-Jährige präsentierte sich in unserem Gespräch sehr reflektiert und gut gelaunt. Lobte seinen (Noch-)Arbeitgeber RB Leipzig und stellte heraus, wie gut sich junge Spieler dort entwickeln können.
Die Frage nach dem neuen Cheftrainer lässt sich aber auch jetzt, zwei Tage nach unserer Rückkehr, immer noch nicht final beantworten, wenngleich die Entscheidung auf der Zielgerade sein soll. Denn in Brasilien stand das Telefon von Geschäftsführer Marcel Schäfer nicht still, auch vor Ort gab es neue Entwicklungen. Nach SPORT1-Informationen hat sich Leipzig von der Wunschlösung Cesc Fabregas verabschieden müssen. Auf dem Radar sind nun zwei neue Namen: ein internationaler und ein nationaler Coach. Letzterer ist Ex-Werder Trainer Ole Werner.
Um ein Gefühl für Land und Leute und vor allem den einheimischen Fußball zu bekommen, stand für uns der Besuch beim brasilianischen Topspiel auf der Agenda. Tabellenerster Palmeiras empfing den Tabellenzweiten Flamengo. Doch wer sich auf brasilianische Hochkultur und feinen Fußball freute, wurde schnell enttäuscht. So elegant die brasilianische Seleção in ihren besten Zeiten auftrat, so ernüchternd ist der Fußball in der höchste brasilianischen Spielklasse. Sehr körperlich, sehr zweikampflastig, kaum Spielfluss oder Dribbelkünste, geschweige denn Strafraumszenen. Schnell wurde deutlich: die größten Talente werden schnell nach Europa verkauft, die Qualität der eigenen Liga leidet dramatisch darunter.

Und doch bot das Spiel Anschauungsmaterial, von dem die Bundesliga vielleicht lernen kann. Denn in Brasilien werden VAR-Entscheidungen per Video auf den Leinwänden gezeigt. Der Stadionbesucher wird mitgenommen, es herrscht mehr Transparenz. Was mitunter die Stimmung aber auch noch mehr aufheizen kann - wobei ich eine Atmosphäre wie diese ohnehin noch nie erlebt habe.
Inbrünstig haben die Palmeiras-Anhänger bereits vor Anpfiff ihre Hymne geschrien. Dass ein Stadion nach einem Gegentor nochmal eine Schippe lauter wird, ist ebenfalls in Deutschland unüblich. Auch die Abneigung gegenüber dem Konkurrenten aus Rio de Janeiro wurde nicht erst vor Ort deutlich. Denn bereits vor der Abfahrt hieß es: Um die eigene Sicherheit nicht zu gefährden, meidet bitte rote oder schwarze Kleidung im Stadion. Gesagt, getan. Unsere Reisegruppe entschied sich unabgesprochen unisono für weiße Tshirts.
Und auch RB Leipzig durfte sich als krönenden Abschluss der sechstägigen Reise einen Eindruck der Qualität machen. Mit dem Testkick gegen den FC Santos wurde viel geworben. Xavi gegen seinen alten Freund Neymar. Beide kennen sich aus gemeinsamen Tagen in Barcelona und Paris. Doch das Spiel machte deutlich: sportlich hat Xavi seinem Buddy den Rang abgelaufen, ihm durch seinen Doppelpack auf dem Rasen sogar die Show gestohlen. Neymar war schwerfällig, kaum Tempo und Dynamik in seinen Aktionen. Allerdings kommt er auch (wieder einmal) frisch aus einer Verletzungspause.
Abseits des Platzes gab es jedoch keine zwei Meinungen, wer der Superstar ist. Mir ist schleierhaft, wie Neymar in Brasilien ein Privatleben führen kann. Auch eine Stunde nach Abpfiff warteten hunderte (vermehrt jüngere) Fans auf den 128-fachen Nationalspieler. Tatsächlich musste Neymar an ihnen vorbei, um zum Mannschaftsbus zu gelangen. Was für einen Ausnahmezustand sorgte. Kreischende und schreiende Fans, egal wo man hinschaute.
Und auch ich hatte die Chance, Neymar nach Abpfiff in der Mixed Zone noch eine Frage zu stellen. Ihn zu meiner Fifa Karriere aus dem Jahre 2010 anzusprechen, hätte wahrscheinlich wenig Sinn ergeben und für größere Verwirrung gesorgt. Auch wenn es dem Duo Neymar und Mimoun Azaouagh gerecht geworden wäre, so wie sie in meiner imaginären Karriere gezaubert hatten.
Und doch fragte ich ihn lieber, wie sein Wiedersehen mit Leipzigs Ausnahmekönner Xavi auf- und abseits des Rasens verlief. Neymar antwortete höflich und zog weiter.

Absurd und irgendwie auch kurios. Mein 13-jähriges 'Ich' hätte nicht schlecht gestaunt, wenn man ihm damals gesagt hätte, dass ich dieses brasilianische Ausnahmetalent eines Tages interviewen werde. Und das nicht auf der Konsole, sondern in der realen Welt.
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